Wasserweiber |
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Mein Vater war ein lebensfroher und kunstsinniger Mensch, und er sammelte auf seinen kleinen Reisen Dinge, nach denen die meisten nicht zwei mal schauen würden. Auf einem Urlaub im Engadin lernte er einen Schreiner und Bildschnitzer kennen, dessen Figuren hatten es ihm angetan. Er beauftragte ihn, zwei Meerfrauen zu schnitzen, und zwar nicht entsprechend den modernen Hollywood-Mythologien, sondern nach traditionellem Muster. Diese beiden fischschwänzigen Damen zierten dann viele Jahre lang die Deckenlampe im Wohnzimmer. Die Figuren haben einen ganz eigenen Reiz, und eine der beiden gefiel mir schon gleich, als ich sie das erste Mal zu sehen bekam. Die Lampe mit den geschnitzten Meermädchen hing bis zum Tod meiner Eltern in ihrem Haus. Da nun auch meine Mutter, die ihren Ehemann um 24 Jahre überlebte, heimgegangen ist, wurde der Haushalt aufgelöst (eine Sisyphusarbeit, denn sie waren beide Sammler gewesen), und wir Kinder haben uns die wenigen Stücke, die uns lieb waren, ohne Streit geteilt. Ich bekam meine schuppigen Wasserweiber. Sie sind sich sehr ähnlich, aber bei genauem Hinsehen wird man eines subtilen Unterschieds gewahr. Die linke… nun, das ist eine Meerjungfrau. Aber die Meerfrau zur Rechten blickt nun wirklich nicht in die Welt wie eine keusche Jungfrau. Beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks wird man vielleicht begreifen, warum ich sie so gern habe. In das herausfordernde Lächeln dieses Meerweibleins hatte ich mich vom ersten Augenblick verguckt. Leider schauen mich schuppenlose Landweiblein nie so an… Zuletzt aktualisiert: decet 3.12.2018 |