1945 war's, das Tausendjährige Reich in tausend Fetzen zerrissen, und eine der größten Völkerwanderungen in Europas Geschichte führte aus allen Ecken die bösen Deutschen heim ins... na egal, wohin, Hauptsache weg mit ihnen!
Mein Papa fand sich bei der Auflösung der Wehrmacht weit weg von daheim, in einem amerikanischen Lazarett an der Westfront, in der Eifel, wo er wenige Tage vor der Kapitulation noch einen Armdurchschuß eingefangen hatte. Aber selbst wenn er nicht in Gefangenschaft geraten wäre, hätte er doch große Schwierigkeiten gehabt, sich nach Hause, ins Sudetenland durchzuschlagen, denn dort wurden die Deutschen auch gerade hinausgeworfen. Allerdings nicht alle, die Angehörigen der Wehrmacht, insbesondere die einiger Eliteeinheiten, wurden aufgestöbert, wenn sie Glück hatten, vor ein Vergeltungstribunal gestellt, wenn sie Pech hatten, an Ort und Stelle aufgeknüpft, erschossen oder totgeschlagen.
Meinem Papa wurde das recht schnell klar, als mit neuen Gefangenen auch neue Nachrichten und Gerüchte aus dem Osten ins US-Lager links des Rheins gelangten. Es war abzusehen, daß die Mitsieger recht bald bei den Verbündeten nachfragen würden, ob es da nicht noch den einen oder anderen Kriegsverbrecher in die falsche Besatzungszone verschlagen hätte, den man zwecks Verurteilung und Hinrichtung einfordern müßte. Papa war aber der Ansicht, daß er den Krieg an Ost- und Westfront nicht vergleichsweise unbeschädigt überstanden hatte, nur um in seiner Heimat zum Opfer eines rachsüchtigen Volksgerichtshofs zu werden.
Was tun? Doch dann kam ihm unerwartet das Umerziehungsprojekt der Amerikanischen Sieger zu Hilfe. Die erste Stufe der Umerziehung vom barbarischen Hunnen zum US-gefälligen Demokraten bestand im Ausfüllen eines Fragebogens, in dem z.B. gefragt wurde: "List any crimes of which you have been convicted, giving dates, locations and nature of the crimes." Falsche Angaben wurden hart bestraft, allerdings gingen die westlichen Besatzer in der Regel nicht so weit, einen dafür zu hängen. Papa zählte zwei und drei zusammen, kam zu dem Schluß, daß eine Freiheitsstrafe im Westen allemal dem Strang im Osten vorzuziehen sei, und flunkerte beim Ausfüllen des monumentalen Beichtzettels munter drauflos. Wurde natürlich prompt erwischt und zu einem Jahr verdonnert, abzubrummen im Gefängnis zu Amberg.
Da saß er nun in seiner Zelle, hatte keine Nachricht von Frau und Kind, und mußte 12 Monate lang Däumchen drehen. Oder...? Den besseren Teil seiner Soldatenlaufbahn hatte er als Angehöriger einer Sanitätstruppe gedient, weil er zu Kriegsbeginn Medizin in einem höheren Semester studiert hatte, und in der Deutschen Wehrmacht das Personal möglichst gemäß seiner zivilen Ausbildung und Befähigung eingesetzt wurde. Er hatte sogar immer wieder zwecks Ablegung von Examina Heimaturlaub bekommen, und im Schützengraben medizinische Fachbücher durchgeackert, um sich auf die nächsten Prüfungen vorzubereiten, sodaß er bei Kriegsende ein fast fertiger Arzt war. Der Gefängnisleitung war dies bekannt, und nach ein paar Wochen wurde er gefragt, ob er nicht vielleicht eine Aufgabe in der Infrastruktur der Haftanstalt übernehmen wolle, als Akademiker könnte er doch sicher lesen, schreiben und rechnen.
Langeweile ist übel, und Papa sagte nur allzugern "Ja". Es handelte sich um eine verwalterische Tätigkeit, ich weiß nicht mehr genau, ob mit Wäsche oder Lebensmitteln, jedenfalls wurde er in den nächsten Wochen von einem anderen Häftling eingearbeitet, der bald entlassen werden sollte. Der war übrigens kein hochgefährlicher Fragebogenfälscher, sondern nur ein gewöhnlicher Betrüger oder Unterschläger, der schon einige Jahre gesessen hatte. Jedenfalls war der Papierkram äußerst kompliziert eingerichtet, mit mehreren gegenreferenzierten Kladden, einem eigenen Jargon, und verlangte die Beherrschung einer aufwendigen Prozedur mit geheimnisvollen Symbolen in Dutzenden von bedeutungsschweren Buntstiftfarben.
Papa studierte diese kabbalistische Geheimwissenschaft mit Eifer und Verständnis, und als er nach vielen Tagen einigermaßen begonnen hatte, durchzublicken, wagte er einen bescheidenen Kommentar: "Sag mal, Herbert", fragte er seinen Lehrmeister, "könnten wir nicht Spalte 4 aus Kladde 2 und Spalte 6 aus Kladde 5 zusammenführen? Das würde die Verständlichkeit stark verbessern und helfen, Fehler zu vermeiden."
"Mensch, Eduard, für so begriffsstutzig hab ich Dich nun wirklich nicht gehalten", kam die tadelnde Antwort. "Wenn wir das vereinfachen, dann kann's irgendwann einer von den Knastbeamten selber machen, und sie nehmen's uns weg. Kapiert?"
Papa kapierte. Und so wird wohl noch heute die Kartoffel- und Nudelverwaltung in der Justizvollzugsanstalt Amberg auf abstruse und undurchschaubare Weise erledigt, wenn auch vielleicht mit Hilfe eines Windows-PCs. Das tät ja passen.
Da darf man kein Depp sein.Zuletzt aktualisiert: decet 18.9.2015