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Kamerad Märchen

- von Macht und Magie des gesprochenen Wortes -

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  Bald sieb­zig Jah­re ist es her, als ein Fern­se­her noch eine bläu­lich flim­mern­de Ra­ri­tät war, und das Ra­di­o ein Hort der Kul­tur. Da be­kam man im bay­e­ri­schen Rund­funk ge­le­gent­lich Sonn­tag nach­mit­tags am Sen­de­platz des Hör­spiels ein Mär­chen zu hö­ren, vor­ge­tra­gen von ei­ner al­ten Da­me, und die­se Mär­chen hat­ten wun­der­li­che Ti­tel wie "Al­lem-­Kal­lem, das Zau­ber­spiel", "Das Ba­zi­li­kon­mäd­chen", o­der auch "Der Ge­mahl der Nacht".

  Ich war da­mals ein Kur­ze-Ho­sen-Stöp­sel, der Mär­chen nur als "Hän­sel und Gre­tel"-ar­ti­ge Wer­ke kann­te, und der sich ei­gent­lich auch dem Mär­chen­al­ter ent­wach­sen wähn­te, aber weil mein Va­ter sich das an­hör­te, setz­te ich mich e­ben da­zu. Ich soll­te es nicht be­reu­en.

  Die Stim­me der al­ten Da­me schlug mich schon nach we­ni­gen Sät­zen in ih­ren Bann, und die Ver­zau­be­rung, die mich beim Zu­hö­ren er­faß­te, dau­ert bis heute an.

  Bald fan­den sich auch ei­nige Lang­spiel­plat­ten mit Mär­chen, er­zählt von der al­ten Da­me mit der fas­zi­nie­ren­den Stim­me, in Pa­pas Plat­ten­schrank. Es wa­ren aber bei Wei­tem nicht alle im Ra­di­o ge­hör­ten Er­zäh­lun­gen, die mit dem La­bel der Deut­schen Gram­mo­phon Ge­sell­schaft zu kau­fen wa­ren, und den Bü­chern, die die Mär­chen­dame ver­öf­fent­licht hat­te, fehl­te die Stim­me und die Per­sön­lich­keit der Er­zäh­le­rin.

  Das war der Stand der Din­ge, als ich Jah­re später mei­nen Va­ter nach sei­ner Be­zie­hung zu der Mär­chen­flü­ste­rin frag­te, und ich er­fuhr dies:

  Papa hat­te, wie so vie­le sei­ner Al­ters­ge­nos­sen, mit der Wehr­macht Russ­land be­reist. Er hat­te Glück, war nicht bis Sta­lin­grad ge­kom­men, weil er nach dem er­sten Win­ter zum Zweck der Be­en­di­gung sei­nes Me­di­zin­stu­di­ums frei­ge­stellt wur­de. In die­sen er­sten Kriegs­jah­ren gab es noch Trup­pen­betreu­ung, und die sel­te­nen Ver­an­stal­tun­gen ga­ben den Land­sern je­des­mal ein paar Stun­den Ur­laub vom Grau­en des Krie­ges. Ein­mal wur­de ih­nen eine Mär­chen­er­zäh­le­rin ge­schickt. Da schüt­tel­te so man­cher den Kopf un­term Stahl­helm und schimpf­te: "'n paar Tanz­mäus­chen soll'n se uns schicken und nicht so'n Kin­der­kram!" - aber al­les war bes­ser als ­der Schützen­gra­ben, und so saßen zum an­ge­kün­dig­ten Be­ginn der Dar­bie­tung ei­ni­ge Dut­zend bär­tige und zum er­bar­mungs­lo­sen Aus­bu­hen der Mär­chen­tan­te ent­schlos­se­ne Krie­ger auf den un­ter frei­em Him­mel auf­ge­stell­ten Stüh­len.

  Ein Tisch wur­de her­bei­ge­bracht, und da kam auch sie, eine klei­ne, zier­liche Dame um die 60, in einem Sei­denjäck­chen und sei­de­nen Plu­der­ho­sen, klet­ter­te auf den Tisch, nahm im Schnei­der­sitz darauf Platz und be­gann in die ver­blüff­te Stil­le hinein, mit kur­zen, präg­nan­ten Sät­zen zu spre­chen.

  "War ein jun­ger Mann. Ein schö­ner jun­ger Mann. Schö­ne jun­ge Män­ner brau­chen Geld. Schö­ne jun­ge Män­ner ha­ben kein Geld…" und schon hat­te sie die har­ten Bur­schen am Ha­ken. Kei­ner stör­te den Vor­trag, denn al­le woll­ten er­fah­ren, wie sich der schö­ne jun­ge Mann aus der Scheiß­si­tu­a­ti­on he­raus­win­den wür­de, die ihm das Schö­ne-­jun­ge-­Män­ner-­brau­chen-­Geld ein­ge­brockt hat­te. Als end­lich die Auf­lö­sung und der Schluß­witz ge­kom­men war, bra­chen sie in ehr­li­chen, lau­ten App­laus aus. "Das Ge­bet des Kadi" hat­te sie im Sturm er­o­bert.

  Mehrere Stun­den lang fes­sel­te die Ba­ro­nin von Kamp­hoe­ve­ner die an­däch­tig lau­schen­den Ker­le, und als sie am spä­ten Nach­mit­tag sicht­lich er­schöpft von ih­rem Tisch her­un­ter­stieg, um­rin­gte das völ­lig hin­ge­ris­se­ne Pub­li­kum die Sprach­zau­be­rin, und ein ums an­de­re Mal wur­de sie ge­fragt: "Wann kommst Du wie­der, Ka­me­rad Mär­chen?"

  So etwas ver­gißt auch ein hart­ge­sot­te­ner Kriegs­mann nicht so leicht, und schon zwei­mal nicht mein Papa, der ei­gent­lich statt Me­di­zi­ner lie­ber Schrift­stel­ler ge­wor­den wä­re. Er starb An­fang der neun­zi­ger Jah­re, und sein Wunsch, al­le die Ge­schich­ten hö­ren zu kön­nen, blieb un­er­füllt. Auch ich hat­te mich ir­gend­wann da­mit ab­ge­fun­den, daß die ge­lieb­ten tür­ki­schen Er­zäh­lun­gen ver­lo­ren wä­ren im Strom der Zeit, wie Trä­nen im Re­gen. Ich irr­te aber.

  Etwa im Jahr 2002 lud ei­ne Klas­sen­ka­me­ra­din mei­ne Toch­ter auf einen Nach­mit­tag bei ih­rem Freund ein, und ich soll­te sie am A­bend ab­ho­len. Vik­tor, der Freund, führ­te ei­nen vor­neh­men preußi­schen A­del­sti­tel und war drei mal so alt wie das min­der­jäh­ri­ge Mäd­chen, aber das geht mich ja nichts an. Ich frag­te ihn, ob er rein zu­fäl­lig mit dem Geb­hard Le­be­recht glei­chen Na­mens ver­wandt wä­re, und ja, das war sein Ur­groß­onkel. Er bot mir ein Gläs­chen Wein an, und wir plau­der­ten ein biß­chen, wäh­rend sich die Freun­din­nen ver­ab­schie­de­ten. Beim bayeri­schen Rund­funk wä­re er be­schäf­tigt, und da schlug in meinem Kopf ein klei­nes Glöck­chen an. Ob er Zu­gang zum Ton­ar­chiv hät­te? Nein, das nicht, und was ich denn da wol­le. Tja, da rück­te ich mit mei­ner Sehn­sucht nach den Ton­auf­nah­men der Kamp­hoe­ve­ner-­Mär­chen her­aus, und Vik­tor mein­te: "Na so was, die Fa­mi­lie kenn ich ganz gut, als ich ein Kind war, da kam die alte Ba­ro­nin ab und zu mal zum Tee." Und dann er­zähl­te ich ihm, daß die Er­ben der Mär­chen­ma­gie­rin auf den Ur­he­ber­rech­ten der Ton­auf­nah­men hock­ten, und zu hab­gie­rig oder zu blöd oder bei­des wä­ren, um mit ei­nem Schall­plat­tenla­bel ei­nen Ver­trag zu ma­chen und die Auf­nahmen der Öf­fent­lich­keit zu­gäng­lich zu ma­chen.

  Viktor mein­te: "So so. Da könn­te man also Geld da­mit ver­die­nen. Auf dem Ohr sind sie nicht taub, son­dern so­gar recht hell­hö­rig…". Dann ver­ab­schie­de­te ich mich, und hat­te die Be­geg­nung bald ver­ges­sen.

  Un­ge­fähr ein Jahr spä­ter goo­gel­te ich nach 'Kamp­hoe­ve­ner', weil ich wis­sen wol­lte, wie das mit der Mi­li­tär­be­ra­ter­tä­tig­keit des Va­ters, Louis von Kamp­hoe­ve­ner Pa­scha, im os­ma­ni­schen Reich ge­we­sen wä­re. Da pur­zel­te a­ber ne­ben Ver­wei­sen auf hi­sto­ri­sche Texte, und auf die längst in mei­nem Be­sitz be­find­li­chen Bü­cher, auch ein An­ge­bot für ei­ne CD-­Aus­ga­be der ge­spro­che­nen Mär­chen her­aus. Ganz neu, erst ein hal­bes Jahr im Han­del. Ich stürz­te mich auf den Web­shop des An­bie­ters und be­stell­te ohne Zö­gern.

  Es war ein Sams­tag. Noch am sel­ben A­bend klin­gel­te das Te­le­fon, ein Herr stell­te sich als der Ver­käu­fer der - teu­ren - 10-­CD-­Aus­gabe vor und frag­te, ob ich die­se be­stellt hät­te. Ja, hat­te ich. Und ob ich sie auch wirk­lich ha­ben woll­te. Ja, woll­te ich. Weil es das letz­te Exem­plar wä­re, und er schon da­bei ge­wesen wä­re, es zum Ver­lag zu­rück­zu­schicken 1, a­ber wenn ich es ha­ben woll­te, dann wür­de er das nicht tun, son­dern es mir ver­kau­fen.

  Und so kam ich in den Be­sitz des letz­ten Exem­plars der in klei­ner Auf­lage ver­öf­fent­lich­ten Mär­chen der El­sa So­phia von Kamp­hoe­ve­ner. End­lich. Sie wie­der - und teil­wei­se zum er­sten Mal - zu hö­ren, ins­be­son­de­re mein Lieb­lings­mär­chen "Der Mat­ten­flech­ter", war nach der lan­gen Zeit eine große Freu­de.

1   Ich hat­te mir da­mals kei­ne Ge­dan­ken da­rü­ber ge­macht, wa­rum denn die CDs zum Ver­lag zu­rück­ge­schickt wer­den soll­ten, Haupt­sa­che war schließ­lich, daß ich sie be­kam. Beim Re­cher­chie­ren für die­ses Ge­schicht­lein fand ich al­ler­dings he­raus, daß die be­sag­te CD-Aus­ga­be we­gen ei­nes Ur­he­ber­rechts­strei­tes nach kur­zer Zeit vom Markt ge­nom­men wer­den muß­te. Das tät ja pas­sen.


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  Nebenbei bemerkt: die ana­to­li­schen Hir­ten­er­zäh­lun­gen der Frau von Kamp­hoe­ve­ner ha­ben auch beim Zu­stan­de­kom­men ei­ner gro­ßen Freund­schaft mit­ge­wirkt - aber das ist ei­ne an­de­re Ge­schich­te.


--black--red--orange--yellow--green--blue--indigo--violet--black-- Zuletzt aktualisiert: decet 26.7.2024