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Als ich noch sehr jung war...

   
       
   

          - ein Minnelied in Prosa -          

   

--dicke Linie, bunt, einfach--

Es war im achtundsechziger Jahr, ich hatte gerade mein Abitur bestanden, ein altes Motorrad, einen noch älteren Beiwagen dran, und eine unbändige Lust nach dem Land, wo die Zitronen blühen. Meine Schwester Ingrid hatte sich für einen Sprachkurs in Italien an­gemeldet, und vorgeschlagen, ich solle doch zwei Wochen lang mitfahren (länger wäre mangels Geld und Zeit nicht gegangen). Ich konnte höchstens ein Dutzend Wörter italienisch („Prego“, „Grazie“, „Si“, „Scusi“, „Vino ros­so“, „Il conto“, „Dove sono i gabinetti“), und die Aus­sicht, einen Dolmetscher bei der Hand zu ha­ben, ermutigte mich, ihrem Vorschlag zu folgen. Mein bißchen Ge­päck war schnell beisammen, und am Morgen meines 19. Geburtstags machte ich mich stolz auf den Weg nach Süden, zu meiner ers­ten Urlaubsreise ohne Papi und Mami. Nach einer langsamen und holprigen Fahrt über die Alpen und durch die traumhaft schönen spätsommerlichen Landschaften der Lombardei, Piemonts und Liguriens fand ich mich auf dem „Capo Mele“-Campingplatz etwa einen Kilometer südlich des Riviera-Städtchens Laigueglia wieder. Idyllisch gelegen, halb oben an der Steilküste, enge Serpenti­nen-Zufahrt zu den Zeltplätzen unter alten Olivenbäumen1. Nachts kuschelte ich mich im alten, stockfleckigen Ami-Mumienschlafsack an mich selber, geborgen in meinem winzigen, undichten Zelt, das ich mit den Ameisen teilte, und Fischer-Chöre von Zikaden und Grillen zirpten mir zum Einschlafen ihre Ständchen. Tags spendete der Ölhain kühlenden Schatten, den ich aber ver­schmähte, denn ich brutzelte am schmalen Strand in der Sonne, schrieb Ansichtskarten, machte Notizen in meinem Tagebuch, und hielt Ausschau nach Mädels. Mit de­nen ich allerdings wegen eines hochwertigen Minderwertig­keitskomplexes eh nix hätte anfangen können.

Ingrid saß vormittags in ihrem Sprachunterricht, aber den Rest des Tages ging sie mit ein paar anderen Kursteilnehmerinnen auf die Jagd nach Pappagalli (oder posierte als Beute). Sie hatte eine fein ab­gestufte Liste mit Prioritäten, und für mich dolmetschen stand weit unten. Abends zog sie mit den Damen durch die Bars. Bald stellte sie mich auch dem Haufen vor, mit dem sie sich nach ein paar Tagen angefreundet hatte. Es waren freundliche Typen, einer von ihnen, Tino hieß er, besorgte mir sogar ein Ersatzteil für meine gute alte Motocicletta.

Natürlich hatte ich binnen Kurzem einen üblen Sonnenbrand, und der schattige Zeltplatz bot Zuflucht vor der damals noch nicht ozonlöcherigen, aber trotzdem unguten Mit­tagsglut. Mein Zeltnachbar hauste nicht wie ich in einer Biwakschachtel, sondern resi­dierte in einer regelrechten Villa aus baum­wollenen Planen, winkelig und protzig, mit Veranda, se­paraten Schlaf- und Wohnbereichen, und an einer Seite prangte eine per Windfang abgeteilte Koch­nische mit zweiflammigem Gaskocher. Wel­cher unbeaufsichtigt vor sich hin loderte, in der Hitze war wohl der Druckminderer vom verdamp­fenden Propan überfahren worden, die Flammen leckten, immer wieder von Windstößen auf­gehetzt, nach der Stoffbahn des Windfangs, und - ich traute meinen Augen nicht - hatten sie auch schon in Brand gesetzt. Che cazzo di merda. Da gab's kein langes Überlegen, zwei, drei rasche Schritte brachten mich an den Brandherd, ein Griff an den Herdknopf löschte den Flammenwerfer, und dann verprügelte ich den brennenden Stoff mit ein paar beherzten beidhändigen2 Watschen zu einem qualmenden Aschen­fetzen. Vom Klatschen aufgeschreckt, steckte der Großzeltler seine Rübe um die Ecke, blaffte streitlustig „Was mach'n Sie d'n da?“ und wollte offensichtlich von seinem Haus­recht Gebrauch ma­chen. Ich sagte nur „Ihr Zelt löschen“. Er glotzte mich blöde an, dann seine rui­nierte Küche, dann wieder mich... Ich wischte mir die Aschenreste von den schweißklebrigen Fin­gern, zuckte die Ach­seln, drehte mich um und ging weg. Kein Wort des Dankes, und auch keine Gemütsbewegung dar­über, was für einen prächtigen Scheiterhaufen die August-trockenen Bäume in wenigen Minuten für uns alle abgegeben hätten. Ich frage mich manchmal, ob er jemals begriffen hat, wie knapp ich ihm (und mir) die Chance auf eine „Bild“-Schlagzeile vermasselt hatte.

Aber eigentlich wollte ich ja etwas ganz anderes erzählen. Mein Weg zum Strand führte nach dem besagten Kilometer entlang der Küstenstraße durch das schattige Städtchen, und dann hinunter, stei­nerne Treppen, zum Meer. Am Ende der ersten Woche sah ich bei meinem morgendlichen Strand­gang durch die Altstadt plötzlich ein zierliches lockenköpfiges Mädchen mit Strandtasche graziös vor mir die Gasse entlang schreiten. Ich war wie vom Blitz getroffen. Was für ein himmlisch süßer Anblick. Aber wie ich so dastand und wie betäubt hinter ihr her starrte, bog sie um eine Ecke und war weg. Maledizione! Also mußte ich am nächsten Morgen früher aufstehen, damit ich recht­zeitig mit einem Espresso in einem günstig gelegenen Straßencafé sitzen und der Erscheinung auf­lauern konnte. Richtig, da kam sie, oh die war ja auch von vorn ein Genuß, der Kaffee war schon bezahlt, ich sprang auf und heftete mich an ihre Fersen. Zum Strand ging's, und dort schmachtete3 ich sie aus etwa 5 Metern Entfernung diskret den ganzen Tag lang an. Sagte ich nicht bereits, daß ich mit Mädels nicht konnte? „Heimlich“ machte ich ein paar Fotos von ihr. Mit einer geliehenen Knipse4. Zwei Tage später mußte5 ich heimfahren, und mei­ne Begierde6 würde unerfüllt bleiben. Ingrid, die mir den Fotoapparat geliehen hatte, blieb noch ein paar Wochen, und ich schüttete ihr mein leidendes Herz aus7. Sie wollte mal sehen, was sich machen ließe.

Auf dem Heimweg war ich völlig geknickt8. Als einzige Andenken blieben mir zwei kurze Video­clips ins Gedächtnis gebrannt. Der erste enthielt den Blitzschlag, der mich in der Gasse getroffen hatte. Der zweite zeigte sie für ein paar Sekunden, wie sie am Strand ihr Handtuch zum Hinlegen ausbreitete - selbstbewußt wie eine Königin, aber ohne den königlichen Hochmut. Ihre Körper­sprache sagte ruhig, aber bestimmt: „ALPHA“. Jeder beliebige Depp hätte erkennen können, daß sie fest entschlossen war, ihres Glückes Schmied zu sein, und daß sie auch das Zeug dazu hatte. Aber ich bin nicht „jeder beliebige“ Depp, ich bin ein Depp der Extraklasse.

Im Spätherbst bekam ich dann zwei Nachrichten. Die erste war, daß die Fotos verlo­ren waren9. Die zweite war ein Zettel, auf den mein Elfchen ihren Namen und ihre Adresse ge­schrieben hatte. Die Worte, die ich las, klangen mir wie eine italienische Opernarie in den Ohren, und ich weiß sie heute noch10. Ingrid war mit dem 12-jährigen (!) Engerl ins Gespräch gekommen, hatte dabei erfahren, daß ihr meine „diskreten“ Blicke keineswegs verborgen geblieben, aber auch nicht unangenehm gewesen wären, und ich sollte ihr doch schreiben. Wir tauschten ein paar kurze Briefe und Post­karten aus, ihre mit einer adretten, schmucken, sehr disziplinierten Handschrift, meine fahrig und hastig gekritzelt, obwohl ich genügend Zeit hatte, denn ich verschliß beim mühsamen Verfassen meiner Episteln ein ganzes Taschenwörterbuch11. Im Verlauf der nächsten Monate erlebte ich mehr­mals Erscheinungen12 ihrer verlockenden Gestalt, und im Sommer fuhr ich noch einmal für zwei Wochen an die Riviera, mehr konnte ich mir von dem bißchen zusammengekratzten Geld nicht leisten. Ich hatte so viel zu gewinnen, und so wenig Zeit...

Was für ein Wiedersehen. Das Kind war gewachsen, und zwar unterhalb der Taille. In die Weite und Breite. War das Babyspeck, oder der Beginn eines neapolitanischen Pasta-Friedhofs? Und außerdem hatte sie von ihren Eltern ihre argusbrillenäugige Schwester als Anstandswauwau an­befohlen ge­kriegt. Ach ja, die Aufpasserin kam figürlich nach dem zierlichen Pappa, aber mein elfenzartes Traumgebild' des vergangenen Sommers schien eher dazu zu neigen, nach ihrer rundlichen Mamma zu geraten13. In meinen Träumen war all das ein bißchen anders ge­wesen, und möglicher­weise sind mir die Gesichtszüge ein bißchen entgleist - wenn auch nur kurz.

Es wurden zwei lange Wochen, und ich war nicht so ganz glücklich. Die Kleine auch nicht. Heute denke ich, daß es sowieso nix geworden wäre: sie war gerade mal 13, und wenn was gegangen wäre, hätte ich bei meiner Tappigkeit leicht einen italienischen Knast von innen kennenlernen können. Und die einzige Gelegenheit, bei der wir der Anstandsdame hätten entwischen können (etwa einen Kilometer vom Strand entfernt gab es eine praktische schwim­mende Plattform), habe ich versemmelt, weil ich mangels Vokabelkenntnissen nichts begriff, als sie wiederholt auf das in der Ferne kaum sichtbare Ding deutete, und die Geste mit den Worten „Nuotiamo lontano!“ begleitete. Wie blöd kann man sein?

Vom Vorjahr kannten wir noch die Clique aus deutschen Touristen und Einheimischen (einer der Vitelloni nannte mich „Von Braun“14, weil Ingrid erzählt hatte, ich wolle Physik stu­dieren), wir trafen uns am Strand oder in den caffetterias, um unsere Ferienzeit tot­zuschlagen, und dort15 traf ich mich auch mit Emi. Aber ich war nie allein mit ihr, nicht einmal, wenn ihre Leib­wache mal kurz wegschaute. Ilselore, eins der Mädchen aus der Gruppe, warf mir vor, daß ich das kleine Gold­kind herzlos und kalt behandele, aber sie hatte ja keine Ahnung, wie's in mir drunter und drüber ging. Meine Frustra­tion wuchs von Tag zu Tag, meine Sprachkenntnisse aber kaum, und meine un­geschickten Annähe­rungsversuche Richtung Emi wur­den diskret, aber wirksam vereitelt. Am Sonn­tagabend veran­stalteten wir eine Strandparty mit Lager­feuer, aber Emi durfte nicht mitkommen: „Ha una rinite“. Blödsinn! Ich hätte sie schon gewärmt... Na ja, zum Schluß16 hatten wir kleine Fortschritte zu ver­zeichnen: Ich konnte immer mal wieder eine verstohlene, unschuldige Liebkosung17 anbringen, die sie meistens mit einem leise (und zärtlich) geflüsterten „Maledetto!“18 quittierte. Ach, die süße Falle, die ich mir selbst gestellt hatte, war dabei, sich zu schließen... Aber es fühlte sich so gut an! An meinem letzten Tag besorgten die Jungs aus der Clique ein paar Schlauchboote mit Motor, wir machten einen Ta­gesausflug auf die Gallinara, hatten alle einen Riesenspaß19, bis auf mich, der ich beinahe vor lauter unerfülltem Trieb zerschmolzen wäre, und dann war es vorbei. Arrivederci, Emi. Arrivederci, Liana.

Ja, meine Zeit war abgelaufen, meine Reisekasse erschöpft. Ich mußte fort, und wir hatten noch nicht einmal ein einziges unschuldiges Küßchen ausgetauscht. Nicht einmal zur Madonna della Guardia hatte ich sie mitnehmen können, um dort - in allen Ehren - die atemberaubende Aussicht mit ihr zu genießen, weil sie nicht mit mir auf dem Moto mitfahren durfte (ohne ihre Leibwache).

Was sollte ich tun? Was konnte ich denn tun? Ich ging mal die verschiedenen Möglich­keiten durch: Drei Jahre warten, sie mit einigen romantischen Zeilen alle paar Wochen bei der Stange halten? Und dann? Um ihre Hand anhalten? Wovon sollten wir denn leben, geschweige denn eine Familie gründen, wo doch bis dahin keiner von uns mit einem ausreichenden Einkommen rechnen konnte? Sollte ich sie auffordern, mit mir in Sünde zu leben, wann immer wir eine Gelegenheit fänden, uns zu treffen? No na, das war Italien, außereheliche Beziehungen waren ein gewaltiges Tabu, und ein junges Mädchen zum Bruch dieser Konventionen aufzufordern, wäre eine unverschämte, ja obszöne Zumutung gewesen20. Wir hatten auch - wegen meiner mangelnden Fähigkeiten zum Ausdrücken abstrakter Ideen - nicht über Religion gesprochen, aber ich bin ziemlich sicher, daß ihre Familie ka­tholisch war, und sich gegen alles andere als eine Heirat mit Zähnen und Klauen gewehrt hätte. Und dann war da der unbedeutende Umstand, daß ich noch unschuldig war, diesem Zustand aber baldigst ein Ende bereiten wollte21, und daß mir die trübe Aussicht auf eine langgezogene Braut­werbung in Zeit­lupe - höchstens zwei Wochen pro Jahr - gar nicht schmecken wollte. Drei Jahre! Das erschien mir mit zwanzig wie eine halbe Ewigkeit. Nota bene: Hätte ich ihr versprochen, bis zu ihrer Ehe­mündigkeit22 auf sie zu warten, wäre das für mich auch eine Verpflichtung gewesen, ent­haltsam zu bleiben. Was ich verspreche, das pflege ich auch zu halten23. Zu allem Überfluß stellte ich mir noch vor, daß sie sehr bald zu einer hinreißenden jungen Frau erblü­hen, daß sie von Ver­ehrern um­schwärmt sein würde wie ein Honigglas von Fliegen, und daß ich - aus den Augen, aus dem Sinn - nicht die geringste Chance haben würde, im Mittelpunkt ihrer Ge­fühle zu bleiben. Kurz: Ich hatte alle Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Geschichte fahren lassen24, und weil ich ein unge­duldiger und egoistischer Kerl bin, warf ich das Handtuch.

Nach meiner Heimkehr bekam ich noch zwei Postkarten von ihr, und als ich nicht darauf reagierte, kam noch eine letzte Weihnachtskarte, auf der nur zu lesen war: „MALEDETTI! PERCHÉ NON SCRIVETE?“. Sie muß tief verletzt gewesen sein25. Ach, ich war ja so umsichtig, so klug, so ver­nünftig. Und ich hatte es schon wieder getan. Denn im Herbst 1968 hatte ich einem anderen Mädchen geschrieben, daß ich sie nicht liebte. Ich war zu feige gewesen, es ihr ins Gesicht zu sagen, sondern hatte ihr nur einen kurzen Brief geschickt, den ich damals für aufrichtig hielt, der aber ein­fach nur mies und herzlos war. Wir waren noch nicht sehr weit gekommen, hatten nur ein bißchen ge­knutscht und ge­fummelt, aber sie hatte mich gern, und ich hatte geglaubt, sie auch gern zu haben - bis ich aus Italien mit jenem irrwitzigen, zum Scheitern verurteilten Traum heimgekehrt war26. Für Emiliana konnte ich nicht einmal dieses jämmerliche Quentchen „Anstand“ aufbringen.

Das war's also. Ich hatte anmaßend und selbstgerecht schon wieder eine kostbare Bindung gekappt27. Aber diesmal blieb mir ein Stachel im Gewissen. Denn alle Jahre wieder fielen mir irgend­wann aus heiterem Himmel28 die wenigen köstlichen Stunden quälenden Glücks ein, die ich mit der lieben, kleinen Italienerin verbringen durfte, ich fragte mich ein bißchen wehmütig „Was wäre, wenn...?“, und dann legte ich die Frage sanft wieder zurück in ihr mit Samt ausgeschlagenes Kästchen, ohne eine Antwort zu suchen.

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Schneller Vorlauf ins Jahr 2011. Irgendwo las ich eine Meldung über ein Großfeuer auf einem Campingplatz. Da fiel mir mein kleiner Feuerwehreinsatz von damals ein, und aus einer Laune heraus schrieb ich ein paar Zei­len darüber. Beim Stöbern in meinen Erinnerungen29 purzelte dann unerwartet noch das eine oder andere hervor, und als ich die Geschichte wieder zusammen­gestückelt hatte, wurde ich doch neugierig, was wohl aus E.B. geworden war.

Ich googelte ihren Namen. Jaa - - eine Signora dieses Namens, geboren und aufgewachsen in Neapel, bekam 197930 ihren Doktor in Biologie an der altehrwürdigen Università degli studi di Napoli, machte eine glänzende Karriere in USA und Eu­ropa, war wissenschaftliche Leiterin eines großen euro­päischen For­schungsinstituts in S........, und hat jetzt einen Lehrstuhl an der Universität ...... in Kali­fornien, wo sie u.a. an der Erforschung der zellbiologischen Ursachen von Suchterkrankungen arbeitet. Es gibt auch Bilder von der Dame, und nach meiner - zugegeben nicht mehr ganz deut­lichen - Erinnerung gibt es nichts, was die Identität mit meiner Bekanntschaft aus Laigueglia aus­schließt. Da ist das strahlende Lächeln, da sind diese unglaublichen türkisfarbenen Augen und die schwarzen Locken31. Von dem allerdings, was ich für den Ansatz zu einem Pasta-Friedhof gehalten hatte, sieht man keine Spur - es war wohl doch nur Babyspeck gewesen. Eine Augenweide ist sie immer noch.

War sie's? Ich schickte ihr eine vorsichtige e-mail, und war völlig überrascht, als post­wendend eine verständnisvolle und warmherzige Antwort kam. Sie wußte sogar noch, daß ich Dieter heiße. Das traf mich nun völlig unerwartet. Aber freute ich mich für sie? Im Gegenteil, wie einen Hammerschlag fühlte ich einen schweren Verlust wie den eines geliebten Men­schen, wurde buchstäblich krank vor Trauer und Reue, und dachte, ich hätte den größten Fehler meines Lebens begangen, als ich nicht mit aller Kraft versuchte, sie zu gewinnen. Die Schmerzen, die ich vor mehr als einem halben Men­schenalter so beiläufig ausgeteilt hatte, kamen nun wieder zu mir zurück. Aber was man niemals be­sessen hat, kann man auch nicht verlieren, das wurde mir nach ein paar schlimmen Tagen klar. Ich weiß heute so wenig wie damals, was ich unter den gegebenen Umständen hätte tun sollen, aber eines ist mir angesichts meiner Mittelmäßigkeit und meines mangelnden Ehrgeizes32 schmerzlich bewußt geworden: ohne es zu wollen, habe ich das Richtige getan, als ich meine Pfoten von dieser außergewöhnlichen Frau ließ. Ein Licht, das so hell brennt wie das ihre, darf man nicht in einem kleinbürgerlichen Lebensentwurf einsperren, und etwas anderes hatte und habe ich nicht zu bieten. Alles, was ich jetzt noch für meinen Seelenfrieden tun kann, ist, mir einzu­reden, daß mein kaltschnäuziges Abschmettern ihrer Zuneigung ihr vielleicht einen kleinen zu­sätzlichen Schubs33 in die Richtung zu ihrem großartigen Erfolg gegeben hat.

Das Kästchen brauche ich wohl nicht mehr zu öffnen, denn ich habe jetzt eine Antwort.

Ach, Emi, die Erkenntnis, daß wir niemals glücklich zusammen bis ans Ende unserer Tage hätten leben können, ist eine bittere Pille für mich. Damals konnte ich es noch nicht wissen, aber ich hatte nur die Wahl, Dein Herz zu brechen oder Dein Leben zu versauen. Gott sei Dank habe ich Dir das Herz gebrochen.


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1   Ich hatte befürchtet, daß es die Bäume nicht mehr gibt, und der Campingplatz nur noch ein asphaltiertes Rechteck ist, auf dem man Wohn­wagen und -mobile parken kann. »They paved paradise and put up a parking lot.« Überraschenderweise ist das nicht der Fall.

2   Zum Glück war es damals noch kein Nylon, sonst wären meine Hände reif für den Notarzt gewesen.

3   Ins Tagebuch schrieb ich: „Ich habe übrigens gestern (und heute wieder) einen schönen Rücken ausgemacht. Es kommt zu keinen Weiterungen, dessen bin ich sicher (ich kann ja kaum italienisch), aber es ist doch beruhigend, zu wissen, daß mich doch noch etwas beunruhigen kann.“

4   Einen Tag später: „Die Besitzerin meines schönen Rückens ist eine (soweit ich das aus der Ferne sehen konnte) durchschnittlich entzückende, etwa 13-jährige bambina von anmutiger Lebendigkeit.“

5   Ich mußte am 6. fahren, denn ich hatte einen Termin: am 9. war ich zur Musterung einbestellt, die Reise mit meinem langsamen, alten Motorrad dauerte drei Tage, und da war nix zu machen.

6   Und dann schrieb ich: „Ich bin |:p.l.e.m.:| Can't help it, but... Ich bin... ich bin einfach verrückt auf das Kind! Hoff­nungslos & sinnlos.“

7   Schließlich: „Revidiere: nicht 13, sondern ca. 15. Nicht durchschnittlich entzückend, sondern entzückend. Und ich bin nicht normal, sondern völlig gebrochen, weil ich morgen früh fahren muß. Und ich werde meinen schönen Rücken & alles was dazugehört, nie wieder sehen!!!“

8   Am Abend der ersten Etappe meiner 3-tägigen Heimfahrt kritzelte ich: „Ach auf der ganzen Fahrt (und die war lang, die Fahrt!) bis hierher mußte ich immer, wenn ich etwas Schönes sah (und ich sah oft, sehr oft schöne Dinge!) an meine kleine ragazza denken. Das tat mir immer sehr weh. (eine Zeile aus einem Schlager ging mir nicht aus dem Kopf) »I guess your chances come but once, and boy I sure missed mine...« Bei mir ... war es Liebe auf den ersten Blick. So etwas gibt es (Ach, was hat sie für wunderschöne Augen, ganz hellblau, mit einem Stich ins Grünliche, beinahe türkis, und was für einen Mund...). Tja, aber die ganze Räsoniererei ist müßig – wahrscheinlich hat sie mich in einer Woche vergessen (ich hoffe, ich sie nicht!!), und außerdem – selbst wenn nicht – sie konnten zusammen nicht kommen, die Entfernung war viel zu groß. Es ist schon tragisch!!“

9   Ingrid hatte den unersetzlichen Film einem „Freund“ gegeben, der ihn für sie entwickeln wollte. Aber sie hatten Krach, der Typ kam nachts zu ihrer Wohnung und klebte den noch unentwickelten Film mit Tesa außen an die Tür. Am nächsten Morgen war er natürlich weg. Ich wünsche ihm alle möglichen unglücklichen Zufälle an den Hals.

10 „Emiliana B*rr*ll*, Via L. Tausillo .., 80125 Fuorigrotte, Napoli“ stand da. Obwohl ich mich bei „Tansillo“ und „Fuorigrotta“ verlesen hatte, kam die Post doch an. Die Neapolitaner nennen das Viertel „Forerotta“, und so viel ita­lienisch kann ich mittlerweile, um zu wissen, daß das kein Kompliment ist. Ich sah es mir mit Hilfe von Google Street View an: ein achtstö­ckiges Mietshaus an einer breiten Straße, nicht weit vom San Paolo Fußballstadion. Wie es aussieht, könnte es aus den Sechzigern stammen. Ein Elendsviertel ist es ganz sicher nicht, aber ich könnte mir vorstellen, daß ein gescheites, ehrgeiziges Kind damals schon mal Vergleiche mit anderen, besseren Gegenden gezogen hat.

11 Im Dezember stand im Tagebuch: „Ah! Ich will italienisch lernen... Es läuft mir kreuzweise den Rücken umeinan­der, wenn ich an meine Verfassung in den letzten Tagen von Laigueglia denke – Was für ein Jammer, was für ein Unglück, daß die Fotos verlorengegangen sind, so (wie damals) werde ich meine kleine Emi nie wieder sehen kön­nen. Und was für eine himmelschreiende Gemeinheit, daß es mir nicht gelungen ist, anständig zeichnen zu lernen!! So wenig jedenfalls wie schreiben. Wenn ich's recht bedenke, kann ich eigentlich gar nichts richtig.“

12 Z.B. die Julia in Zeffirelli's „Romeo und Julia“, oder die heilige Jungfrau in Andrea del Sartos „Verkündigung“.

13 Tagebuch: „...aber sie weiß es, und das macht's etwas hoffnungsfröher. Obwohl ich glaube, daß bei uneisernem Wil­len mit 25 eine gewaltige Mammi draus wird.“ Was bin ich doch für ein seichter, arroganter Idiot! Emi hatte keinen eisernen, sondern einen stählernen Willen, ganz zu schweigen von ihrem Mut. Wenn hier jemand durch Willens­schwäche auffällt, dann doch eher ich.

14 Gewöhnlich gefolgt von „...Zitto!“

15 Durch die Bekanntschaft mit mir fand sie Zugang zu der Clique, von der sie als ebenbürtig akzeptiert wurde, ob­wohl sie viel jünger war als der Rest. Das hat ihrem Selbstwertgefühl sicher gut getan.

16 Als sie erklärte, sie wolle lieber „Liana“ genannt werden. Auch das ist schön. »Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.«

17 Die Innenfläche der menschlichen Hand ist äußerst berührungsempfindlich und eine allgemein unterschätzte erogene Zone – genau die richtige Stelle für Zärtlichkeiten unter den argwöhnischen Blicken wachsamer Augen.

18 Ist es eine Beschimpfung, wenn es von einem Lächeln begleitet wird ? Ich sach ma: Nein.

19 Um mich vor Emi/Liana aufzuspielen, biß ich die Zähne zusammen und machte einen Kopfsprung von der Klippe in das kristallklare Wasser der Bucht. Es war eine rauschhaft schreckliche Erfahrung, und ich habe danach nie wieder das Bedürfnis gehabt, sie zu wiederholen.

20 Schon gleich gar, wenn ein mittelloser ausländischer Student das unbescholtene Schulmädchen in Schande bringt.

21 Trotz zahlreicher Anstrengungen von meiner Seite sollte dieser traurige Zustand noch drei weitere Jahre andauern – ironisch, nicht wahr?

22 Ich hatte angenommen, daß es 16 Jahre wären, so wie damals – und noch heute – in Deutschland. Hätte ich gewußt, daß es in Italien nur 14 Jahre waren... Aber ich habe nie danach gefragt. Noch mal 10 Punkte für Blödheit.

23 Deshalb verspreche ich auch fast nie etwas.

24 Wie kleinmütig ich war. Hätte ich auch nur das mindeste Vertrauen in sie gehabt, ihre starke Persönlichkeit erkannt, dann wäre mir klar geworden, daß sie Mittel und Wege gefunden hätte – wenn sie mich denn gewollt hätte.

25 Denn sie hat es aus ihrem Gedächtnis gestrichen: „...it is too strong and I was and am not like that.“

26 Es gab noch einen weiteren, viel wichtigeren Grund, dessen Bedeutung ich allerdings erst viele Jahre später er­kannte, nachdem ich einiges über die biochemischen und physio­logischen Mechanismen der Partnerwahl gelernt hatte: ich empfand ihren Körpergeruch als unangenehm, obwohl sie es weiß Gott nicht an Körperpflege fehlen ließ. Den kaum wahrnehmbaren Duft hingegen, der von Emiliana ausging, hielt ich für den Hauch eines exquisiten Parfums, das mit viel Geschmack verwendet wurde. Heute glaube ich, daß sie überhaupt kein Parfum benutzte. Damals sagte mir das allerdings überhaupt nichts. Ich war schließlich Physiker, und die brauchen so'n Zeug nicht zu wissen. Ich frage mich, wie ich wohl für sie roch...

27 Es sollte das letzte Mal gewesen sein. Alle meine späteren Beziehungen wurden von den Damen be­endet.

28 Im vorigen Jahr war der Auslöser eine Austauschschülerin namens Aimée (hört sich doch an wie Emi, oder?). Im Jahr davor war es eine Popsängerin namens Emiliana. Und als neulich die (englisch sprechende) Freundin meiner Tochter anrief, ich den Hörer abnahm und hörte “Hi. This is Amy.”, blieb mir fast das Herz stehen.

29 Und in meinen Tagebüchern. Die hebe ich auf, um mich gelegentlich an meine verschwendete Jugend zu erinnern. Und, wenn ich's recht bedenke, auch an den ebenso verschwendeten Beginn meines Erwachsenendaseins.

30 Damals war sie 23. Ich bekam meinen Doktor erst 1982, als ich schon 33 war. Spiel, Satz und Sieg für Emiliana.

31 Das Foto mit dem störrischen Lockenkopf ist aus den Achtzigern. Auf den neueren Bildern ist sie mit einer viel erwachseneren, eleganten Frisur zu sehen, und auf diesen hätte ich sie nicht mehr erkannt.

32 Ich war arm, aber nicht so arm, daß es mich gedrängt hätte, Außergewöhnliches zu leisten, um mein Leben zu ver­bessern. Was ich zu Wege brachte, war immer gut, aber nie hervorragend, und ich war zufrieden, meine kleine Nische in einem fesselnden und wichtigen Forschungsprojekt zu haben, wo ich keine Waffen entwickeln mußte.

33 An ihrer Stelle hätte ich mir vielleicht gesagt: “Questo coglione, che cosa pensa, davvero? Pensa che non sia abbastanza buona per lui? Mostrerò a questo stronzo borioso di un' studente chi di noi è migliore!” - Aber ich war nicht an ihrer Stelle, und was sie gesagt hätte, werde ich nie erfahren.


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