Beim letzten Stammtisch war es, man hatte gespeist, frisch eingeschenkte Biere standen vor den Zechern, und eine entspannte Gesprächspause ruhte über der Runde. Da hob einer sein Glas. Er war noch nicht lange dabei, erst zwei- dreimal da gewesen, hatte nicht viel geredet, aber viel zugehört, und das Bier schmeckte ihm, so hatte er gesagt, nicht mehr, er trank immer ein Viertel des trockenen roten Hausweins. Nicht mehr und nicht weniger.
Er hob das Glas und fragte leise: "Wollt Ihr ein Märchen hören? Ich muß es einfach jemandem erzählen. Also?" - Ein Märchen? Warum nicht? Na dann schieß los, kam es zurück. Und das ist die Geschichte, die wir zu hören bekamen:
Da war ein Mädchen. Wuchs heran im Südosten der Türkei, dort,
wo das unbehagliche Nebeneinander der kleinen Völker die Geschehnisse bestimmt. Aus der Verbrüderung
zwischen einer Kurdin und einem Tscherkessen war das Mädchen hervorgegangen, und als Kind saß sie
oft zu Füßen ihres Großvaters und hörte ihn alte Geschichten und Legenden erzählen.
"Flamme" war der Name, den ihr die Mutter gegeben hatte, denn sie wünschte, daß das Feuer
der Brüderlichkeit und Freiheit in ihr brenne. Als sie gerade kein Kind mehr war, mußte sie mit ihrer Mutter bei einer der vielen kleinen und großen Unruhen ihr Vaterland verlassen, und es verschlug sie ins Land Almanya, in die große Stadt "küçük Istanbul", die schon vielen ihrer Landsleute eine neue Heimat geworden war. Wir kennen diese wunderbarste Stadt des Universums unter dem prosaischen Namen "Berlin". Kreuzberg, jenes herrlich verrufene, verachtete, so lebendige Viertel in dieser Stadt, das sollte nun für lange Zeit ihr Zuhause werden, obgleich sie ja nur für kurze Zeit in der Fremde bleiben wollten - hatte doch der Vater zurückbleiben müssen. Ihn sah sie aber erst kurze Zeit vor seinem Tod wieder, denn er hatte lange darauf gewartet, daß seine Lieben würden zurückkehren können, und als er die Aussichtslosigkeit dieser Hoffnung erkannt hatte und ihnen gefolgt war, trug er schon das Verderben in seinem Körper. Für die schöne und kluge Flamme war es ein selbstverständliches Ziel gewesen, bald unabhängig zu werden, sie ergriff alle ihr angebotenen Gelegenheiten, glänzte in der Schule, an der Universität, und wählte einen Beruf, der ihr Berufung war: zu helfen den Geschlagenen, den Verachteten, den Unterdrückten, und besonders auch denen, die gleich ihr das Leben in der fremden Heimat meistern mußten. Ausländerbehörde. Integrationskommission. Süchtigenfürsorge. Arbeitslosenbetreuung. Prostituiertenberatung. Das waren die Haltepunkte in ihrer Laufbahn, immer als Gebende, nie als Nehmende. Dann trat ein schöner Mann in ihr Leben. Sie hatte nie viel vom Kismet verlangt, aber dieser Mann weckte eine nie gekannte Seite in ihr, ihn wollte sie haben und keinen anderen. Ihrer Mutter genügte allerdings ein Blick auf dieses herrliche Raubtier, ein Wort von seinen Lippen, und sie erkannte ihn als das, was er war. Sie beschwor ihr einziges, geliebtes Kind, doch zur Vernunft zu kommen, aber was nützt das schon, wenn die Begierde geweckt ist, wenn der Blick nicht mehr klar sieht, der Verstand im Aufruhr der Triebe untergeht? Ein schöner Mann. Er zeugte mit ihr ein schönes Kind. Er malte ihr Bilder von großartigen Unternehmungen, er überredete sie, für ein Darlehen zu bürgen, um für ihr Kind eine gesicherte Zukunft bauen zu können - und ließ sie, als diese Zukunft, auf trügerischem Grund gebaut, in Trümmer sank, mit Kind und einem sechsstelligen Schuldenkonto sitzen. Noch stand sie in Arbeit und Brot, konnte die schier erdrückende Last in kleinen Raten tilgen, aber ihr Kind mußte sie allein großziehen. Und dann fiel sie bei ihrem Dienstherren in Ungnade, landete auf der Straße und mußte als Mittvierzigerin um Arbeitslosengeld bitten, um Geld für Kinderschuhe, Geld für Schulsachen, Geld für alles und jedes, und es reichte nicht, schon gar nicht zur Tilgung der Schulden. Was sollte sie tun? Was haben Frauen in Not immer wieder getan? Sie verpfändete ihren Körper, stundenweise, gab sich fremden Männern hin, wie man das so beschönigend umschreibt. Sie wurde eine Hure. Allerdings tat sie das nicht in ihrer Stadt. Die Gefahr war zu groß, daß ihre Tochter es durch Zufall hätte erfahren können, und sie wußte nicht, was eine solche Enthüllung anrichten würde. Da erwies es sich als vorteilhaft, daß Frauen nicht zu lügen brauchen, sie haben ein natürliches Talent, bei Bedarf Wahrheiten zu erfinden: So hatte sie eben "dienstlich" in Bayern zu tun, leitete Seminare, arbeitete als Mediatorin, das war die erfundene Wahrheit, die ihr jahrelang das Doppelleben gestattete. Oh, sie war eine Hure. Keine Nutte, der Unterschied ist, daß es eine Hure für Geld tut, eine Nutte aber für eine Nase Koks, einen Schuß Schnee oder eine halbe Flasche Fusel. Eine göttliche Hure war sie, arbeitete mit dem Künstlernamen einer Göttin, und keiner ihrer Gäste fand das anmaßend. Sie war die Ausnahmehure. Oh ja. Was für eine Frau! Fünf Jahre lang. In dieser Zeit sammelte sich ein kleines Fähnlein treuer Stammkunden um sie, bezeichnenderweise waren darunter viele vom Leben Beschädigte, gute Kerle allesamt, aber mit tiefen Wunden, sichtbaren und unsichtbaren. Ihnen gab sie Halt und Trost, Mut, wenn sie verzagen wollten, und Liebe, wenn sie die Einsamkeit nicht ertrugen. Hurenliebe? Glaubt da irgendjemand daran? Einer von ihnen sagte: "Sie ist einer der wenigen anständigen Menschen auf diesem Planeten." Und ein anderer: "Die ist doch von einem anderen Planeten." So widersprüchlich diese beiden Äußerungen scheinen, zeigen sie doch den großen Respekt, der ihr entgegengebracht wurde. Es sollte vielleicht auch gesagt werden, daß im innersten Kreis ihrer Getreuen etliche waren, die ihr nie körperlich nahe gekommen waren, sich aber in Briefwechseln und Diskussionsrunden mit ihr ausgetauscht hatten. Auch diesen spendete sie Rat und Anregung, obsiegte in manchem Wortgefecht, und gab freimütig zu, wenn sie Unrecht hatte. |
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Wenigen gewährte sie den Vorzug, sie mit dem feurigen Namen anzusprechen, den
ihr die Mutter gegeben hatte. Für die meisten war sie die göttliche Hure, die stolz den Namen der
Weltmutter trug. Und alle liebten sie. Es hätte so ein schönes Ende der Geschichte geben können, sie zahlt die Schulden ihres Ex ab, findet einen anständigen Kerl (da wären schon ein paar würdige Kandidaten gewesen, die es ernst und ehrlich mit ihr meinten), finanziert die Berufsausbildung ihrer Tochter zu Ende und findet auch wieder eine Arbeit als Engel der Getretenen. Ja Pustekuchen. Kurz nach ihrem 50. Geburtstag begann es. Angstzustände, Ärger mit den Kolleginnen, häufige fiebrige Erkältungen, Schwächeanfälle - es wurde ihr alles zu viel, sie verabschiedete sich von ihren Verehrern und zog sich "zu einer Auszeit" nach Berlin zurück. Ein paar Nachrichten gingen noch hin und her, und dann war Stille. Grabesstille. Weg. Geht nicht ans Telefon, beantwortet keine schriftlichen Anfragen, niemand weiß was, niemand hat was gehört. Das hatte sie noch nie gemacht, nicht einmal der innerste Zirkel war im Bilde. Es war, als wäre die Flamme einfach ausgeblasen worden. So, werdet Ihr sagen, und wo ist die Pointe? Wo ist das Märchenhafte? Das ist ein Dutzendschicksal, haben wir schon so oft gehört, da braucht man doch nicht so ein Drama draus zu machen. Vielleicht ist das Ende der Geschichte aber doch noch des Erzählens wert: Ein paar Wochen verstrichen, dann fand sich eine Handvoll besorgter Freunde zum Kriegsrat zusammen. Denn… das Feuer der Brüderlichkeit hatte unbemerkt auf sie übergegriffen, glomm zuerst nur leise vor sich hin, aber der Wind der schlechten Neuigkeiten aus Berlin fachte es zu heißem, leuchtendem Brand an. Wer waren sie denn, diese in Brand gesteckten? Eine graue Eminenz aus Österreich, ein virtueller Boaz'n-Wirt, ein pensionierter Lehrer, ein Juwelier, ein Banker, ein Taxifahrer, zwei Physiker, ein Medienunternehmer, eine Bordellchefin und noch ein paar andere, und das Zusammenfinden war gar nicht so einfach, denn die Göttin hatte immer streng auf Diskretion geachtet. Recht schnell stellte sich heraus, daß etwas oberfaul war. Es war wie ein grausamer Spott, daß das nämliche verzehrende Feuer des Krebses, das schon die geliebten Eltern, zuerst den Vater, dann die Mutter zerfressen und getötet hatte, jetzt in ihr wütete - in ihr, der Flamme, die sich vor nichts gefürchtet hatte außer vor diesem Feuer. Und das leistete ganze Arbeit. Niedergeschmettert an Leib und Seele, geschwächt vom lebensrettenden Messer des Chirurgen und dem Gift der Chemotherapie, sank sie in eine tiefe Depression, hätte sterben wollen, wäre da nicht die Sorge um ihre Tochter gewesen. Aber es wurde ihr alles genommen, weil sie nicht die Kraft hatte, sich durch die Mühlen der Behörden zu kämpfen, sie stand vor dem Nichts. Dies schnüffelten ihre treuen Freunde mit vieler Mühe heraus, und es gab nur eine Antwort: "Wir können sie doch nicht verrecken lassen wie einen Hund!" Der Hut ging herum. Ein Kurier wurde gefunden. Der Widerstrebenden wurde ein Care-Paket überbracht. Und noch eins. Und noch eins. Und es folgten Tat und ein bißchen Rat. Die schöne Wohnung am Park, aus der sie der unbarmherzige Vermieter herausklagte, weil sie mit der Miete unverschuldet in Rückstand geraten war, konnten sie ihr allerdings nicht retten. Aber ihren verlorenen Mut halfen sie ihr wieder zu finden. "Ihr habt mir den Arsch gerettet. Immer wieder. Ich kann das doch nie wieder gut machen." sagte sie einem ihrer Freunde unter Tränen. He, das sollst Du aber! Deine Anhänger erwarten, daß Du wieder auf die Füße kommst und Dein Kismet erfüllst, es ist noch lange nicht vollendet. Demselben Freund (einer von denen, der sie Flamme nennen darf) gestand sie: "Noch eine Chemo mach ich nicht mit. Wenn die jetzt nicht angeschlagen hat, fahr ich in die Türkei, laß mir eine Kalaschnikow geben und kämpfe bei den Kurden gegen den IS. Weißt Du, wenn so ein Schwein von einer Frau getötet wird, ist es nämlich nix mit den 72 Jungfrauen." Gut so. Das ist der alte Kampfgeist, auch wenn es besser wäre, wenn es nicht so kommen müßte. Die Kalaschnikow muß noch ein bißchen warten, denn sie machte dann doch noch eine Chemotherapie, die sie beinahe umbrachte, aber wenigstens den Krebs zum Teufel jagte. Und wer durch diese Hölle gegangen ist, weiß, wie viel Mut dazu gehört. Neulich rief dieser eine Freund sie wieder an, da konnte sie nicht telefonieren, weil sie als Vertretung für eine krank gewordene Freundin ein Mediations-Seminar leiten durfte. Für Gottes Lohn selbstverständlich, denn würde sie etwas dabei verdienen, zöge man es ihr vom Hartzvier ab. Ach ja, und eine neue Wohnung hat sie auch gefunden, ohne die Hilfe ihrer Getreuen. Und weil der zweite Bürge vor kurzer Zeit gestorben ist, kann sie auch endlich Privatinsolvenz beantragen. |
...beendete er ganz, ganz leise seine Erzählung.
Und dann saßen wir da und guckten auf die zusammengefallenen Schaumkronen in unseren Gläsern. Ich zog das meine zu mir heran, hob es zum Mund und nahm einen Schluck. Einer nach dem anderen taten es mir die übrigen gleich, und ein ungesprochener Trinkspruch wehte über den Tisch:
Da möcht' man ja doch nicht so völlig an der Menschheit verzagen. Prost!
Zuletzt aktualisiert: decet 15.1.2017
Als es ihr nach einer langen Rekonvaleszenz endlich wieder so weit besser ging, daß sie einen Job zu stemmen im Stande war, kellnerte sie ein paar Monate lang in einem türkischen Kaffeehaus in Kreuzberg, wo sie sich mit Corona ansteckte.
Aber auch das überlebte sie, und erholte sich anscheinend besser als nach den vorangegangenen Schlägen, telefonierte wieder ein bißchen mit den alten Freunden in Bayern, und dann fand sie nach 78 Bewerbungen eine Stelle im Sozialbereich, wo sie ihre Kompetenzen einbringen konnte. Zwar nur auf 19-Stunden-Basis, aber immerhin. Sie hatte wieder ein Stückchen Unabhängigkeit gewonnen, überglücklich berichtete sie ihrem innersten Zirkel: "Ich kann wieder meine Rechnungen selbst bezahlen!"
Und dann, ein halbes Jahr später, knapp nach dem Ende ihrer Probezeit (TROMMELWIRBEL): Angebot aus dem öffentlichen Dienst, Jugendarbeit mit problematischen Migrantenkindern, feste Anstellung bis zur Rente, traumhaft - sie fragte, typisch, ihren Vorgesetzten (den sie nicht im Stich lassen wollte), ob sie's annehmen sollte. Der sagte nur: "Da zögern Sie noch? Los, räumen Sie Ihren Schreibtisch aus, Sie nehmen das selbstverständlich an!"
Und seit dem ersten August ist sie unkündbar in Arbeit und Brot, endlich, endlich auf die Füße gefallen. Ich freu mich wahnsinnig.