DirkVor ein paar Wochen besuchte ich meine liebste (und einzige) Schwester anläßlich einer Nachlaßangelegenheit, wir tranken ein Täßchen Wein, redeten über Dinge, von denen wir nichts verstanden oder die uns nichts angingen, und irgendwann stand sie plötzlich auf, griff in eine Ecke ihres mit sentimentalen Dingen vollgestopften Wohnzimmers, sprach die Zauberformel "Komm, ich zeig Dir was", und hielt mir einen länglichen Gegenstand hin. Er hatte die Farbe alten Leders, sah gefährlich und würdevoll aus, und ließ mich eine Aura von Stolz und Macht, von Legenden und Geheimnissen spüren. "Ääh - ja. Was ist es?" fragte ich etwas verdutzt. "Das", antwortete sie stolz, "ist der Clansdolch der McCraeghs." "Wie kommst Du an einen Clansdolch?" wollte ich wissen.
"Nicht einen Clansdolch", korrigierte sie mich. "Den Clansdolch." Und dann kam - unvermeidlich - die dazugehörige Geschichte.
Ihre Schulfreundin Maria hatte einen Schotten kennengelernt, war an ihm hängengeblieben, er auch an ihr, und sie hatten geheiratet. Im Lauf ihrer langen und wohl auch glücklichen Ehe waren nach und nach alle männlichen Angehörigen seines Clans verstorben, und plötzlich war er der letzte McCraegh, die Würde des Clansältesten kam auf ihn, und damit auch das Abzeichen dieser Stellung, der große Highland Dirk. Dann verstarb auch er, ohne einen männlichen Erben zu haben, und hinterließ seiner Frau Maria das kostbare und bedeutungsschwere Stück. Sonst erbte sie allerdings nicht viel von ihm, und sie hatte ihre liebe Not, sich nach seinem Tod über Wasser zu halten. Zufällig traf sie dann nach vielen Jahren wieder auf meine Schwester, und die lieh ihr ein paar Mark, um die schlimmste Not zu lindern. Daß sie das Geld jemals wiederbekommen würde, glaubte sie zwar nicht, aber so wichtig war es ihr nicht. Sie trafen sich danach immer wieder einmal, und Jahre später entschuldigte sich Maria bei ihr, daß sie das Darlehen immer noch nicht zurückgezahlt hätte, aber ihre finanzielle Lage wäre nicht so rosig, daß sie das Geld entbehren könnte, und ob sie vielleicht etwas anderes dafür annehmen würde. Nun war der Lebensgefährte meiner Schwester ein leidenschaftlicher Sammler von Messern der besonderen Art, schmiedete auch selber ein bißchen herum, und sie schlug Maria vor, zur Tilgung der Schuld ihr den Dirk als Geschenk für ihren Liebsten zu überlassen. Maria kannte den zu Beschenkenden und war mit dem Handel einverstanden. So kam das Prachtstück in die Hände des kundigen Sammlers, der es hoch schätzte und ihm einen Ehrenplatz an der Wohnzimmerwand zuwies. Ja, und dann mußte auch er von seinen irdischen Gütern lassen, und nun ist mein Schwesterherz die Hüterin des McCraegh-Clansdolches. Es ist ein wunderbares Stück. Ehrfürchtig nahm ich die Waffe in die Hand, fühlte die seltsame Magie, die ihr innewohnte, zog sie auch aus ihrer kunstvoll verzierten Scheide heraus (bemerkte ganz fachmännisch, daß die Klinge zwar patiniert glänzte, aber völlig stumpf war 1), versuchte dann, ungeschickt, wie ich nun mal bin, sie verkehrt wieder in ihre Hülle zurückzustecken, und reichte sie ihrer Bewahrerin zurück. Ich glaube, sie ist in gute Hände gekommen. Aber wer wird sie einmal nach ihr bekommen? Und wird diese Person sie ebenso in Ehren halten? 1 Was ich damals nicht wußte: die Klinge eines Dirk wurde oft aus einem Schwert hergestellt, das in einem Gefecht gebraucht worden war. Nach der Niederlage bei Culloden am 16.April 1746 durfte kein Highlander mehr ein Schwert tragen, wohl aber einen Zeremonialdolch, und so arbeitete manch ein Clansmann das Familienschwert in einen Dirk um - zum Rasieren taugte er vielleicht nicht, zum Stechen aber allemal. Bei genauerer Betrachtung könnte die Klinge des McCraegh-Dirks sehr wohl aus einem abgebrochenen Schwert gefertigt worden sein. Nota Bene: es gibt keinen Clan McCraegh. Und die Maria heißt auch anders. Aber sonst ist es so wahr, wie die Schotten geizig sind. |