Da war ein junger Mann, ein kluger junger Mann. Schön war er auch. Nur reich war er nicht, aber wir wissen ja, daß es das nicht gibt, jung, schön, klug und reich... Darf es auch nicht geben. Der Vater des jungen Mannes hatte ihn zu einem Mann erziehen wollen, und das bedeutete, daß er Zärtlichkeit kaum kannte, und nicht gelernt hatte, zu weinen. Tränen kannte er als erpresserische Darbietungen seiner Mutter, wenn sie beim Vater ihren Willen durchsetzen wollte. Er hatte nur wenige Freunde, weil er klug und schön war, und die, welche gleichen Alters waren wie er, sahen ihn als Gefahr für ihre eigenen Pläne - wann immer sie konnten, beschädigten sie mit Worten und Bosheiten sein Selbstwertgefühl, redeten ihm ein, daß ihn keine Frau begehren könnte. Der junge Mann suchte die Anerkennung seiner Kameraden, und er glaubte ihnen. Seine Schwester, die es anders wußte, weil immer wieder Mädchen sie fragten, wie sie seine Bekanntschaft machen könnten, wies jedes derartige Ansinnen ab, denn sie war auf ihren klugen Bruder eifersüchtig - weshalb, konnte er später, als er davon erfahren hatte, niemals herausfinden.
Es wäre wohl auch nichts dabei herausgekommen, denn der junge Mann benutzte das falsche Parfüm. Er duftevte nach Freundschaft, nach Sehnsucht, nach Zärtlichkeit, und nicht nach frischgedruckten Geldscheinen, wie es zu allen Zeiten sehr in Mode war.
Seine jüngeren Brüder waren nicht besser als seine Kameraden, aber sie hatten nur wenig Macht, ihm zu schaden, denn der Vater hatte seinen ältesten Sohn zum Nachfolger ausersehen, und die Brüder waren zwar stark und schön, aber nicht klug...
Der Knabe reifte in einer Zeit zum Mann heran, in der eine alte Ordnung zu Ende ging, in der die Jugend rebellierte und nach "freier Liebe" rief, aber er bekam davon nur mit, daß er nichts davon mitbekam.
Die Erste, die an dem abschirmenden Netz der Schwester vorbeischlüpfte, und den Jüngling weder verspottete, noch ihn fallen ließ wie eine heiße Kartoffel, sobald sie seinen Duft wahrgenommen hatte, war nun leider eine, die zwar hübsch und gescheit, aber genetisch unverträglich war mit dem Pechvogel. Er empfand ihren Duft als unangenehm. Das ist eine schlimme Sache, denn dagegen kann man nun gar nichts machen. Und wie schwer war es, das dem armen Kind beizubringen (das sicher an die Körperpflege mehr Zeit verwandte als der junge Mann)! Da war es nur gut, daß es nicht zu mehr gekommen war als zu ziemlich unschuldigen Küssen.
Vielleicht sollte der Gerechtigkeit halber gesagt werden, daß trotz seiner Klugheit der schöne junge Mann sich beim Umgang mit dem anderen Geschlecht ausgesprochen einfältig anstellte. Wenn die Schöne, die er in der Schulbank von der Seite anschmachtete, ihn fragte, ob er jemanden wüßte, der ihr Nachhilfeunterricht in Mathematik geben könnte, dann vermittelte er ihr treudoof --- einen Mitschüler. Und als sie ihn von ihrer Freundin einladen ließ, um bei deren Geburtstagsfest mit ihm zusammen zu sein, ergriff ihn Panik, und er fuhr lieber mit seinem Sportverein zu einem Schwimmwettkampf. Solche Dummheiten bestraft das Schicksal allerdings schnell und hart, in dem Schwimmbad erlitt er eine Verletzung, die ihm sehr zu schaffen machte, und deren Narbe ihn sein Leben lang an seine Torheit erinnerte.
Er traf sie noch ab und zu, das letzte Mal vor den Gebäuden der Universität, als sie ihm traurig in die Augen sah und sagte: „Ich geh weg aus München, weil ich nächste Woche heirate. Wir werden uns wohl nicht wiedersehen.“
Da er heraus gefunden hatte, daß Mädchen das Lautenspiel liebten, erlernte er (denn er war musikalisch und hatte geschickte Hände) das Spielen dieses Instruments, und war darum, wenn sich die jungen Leute trafen, ein gern gesehener Gast. Was er nicht bedacht hatte, war, daß man beim Musizieren die Hände nicht frei hat, und wenn nun eines der Mädchen ob seiner schönen Musik das Bedürfnis hatte, sich an jemanden zu kuscheln, erbot sich immer gern einer der "Freunde" des schönen jungen Mannes... wenn der dann aufhörte, zu spielen, waren die Mädels alle beschäftigt.
Er hatte auch gelernt, köstliche Speisen zuzubereiten, und lud gelegentlich zu einem Festmahl ein, aber auch da war er so in Anspruch genommen von seinen Pflichten als Gastgeber, daß die von ihm eingeladenen Mädchen zwar des Lobes voll waren ob seiner Kochkünste, aber, aufgelockert durch die genossenen Gaumenfreuden, schon in den Armen der "Freunde" gelandet waren, bis der Koch aus der Küche auftauchte.
Auf den eigentlich naheliegenden Gedanken, zu Musik und Mahl einen kleineren Kreis, nämlich nur eine Person, einzuladen, kam er erst sehr, sehr viel später. Vielleicht hatte er auch Angst, mit einem Menschen allein zu sein, der ihm etwas bedeutete, Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, Angst vor einer Zurückweisung. Deshalb konnte es wohl auch geschehen, daß er völlig hilflos war, als er einmal ein geliehenes Buch zurückbrachte, die Verleiherin allein antraf, ein paar Worte mit ihr wechselte, und sie plötzlich von einem Weinkrampf überwältigt sah. Anstatt die Schluchzende in den Arm zu nehmen, und ihr - und sich - zu helfen, stand er nur wie gelähmt da, und ließ den magischen Augenblick vergehen. Daß es arrogant ist, Zurückweisung zu fürchten und nicht hinnehmen zu wollen, kam ihm damals nicht in den Sinn, und es sollte noch lange dauern, bis ihm diese Erkenntnis dämmerte.
Er selbst war übrigens mit Zurückweisungen nicht zimperlich - nachdem ihm eine lange von ihm verehrte junge Frau klar gemacht hatte, daß sie niemals mehr als Freunde sein könnten, sa er abends in seinem Stammlokal mit einer anderen zusammen und klagte ihr sein Leid. Sie sprach ihm Trost zu, so gut sie konnte, und mit einem tiefen Seufzer sagte er vor sich hin "Ach, wenn ich Dich nicht hätte..." Da sah sie ihn an und antwortete ganz leise "Hättst' mich ja." Aber nahm er dieses Geschenk an? Nein, er fragte: "Willst Du ein Ersatz sein für jene? Willst Du zweite Wahl sein?" Und der kluge junge Mann hielt diese herzlose Abfuhr für Ehrlichkeit, war auch noch stolz darauf.
Die nächste, mit der er mehr Worte wechselte als "Hallo, wie spät ist es?", zeichnete ihn dadurch aus, daß sie mit ihm gerade deshalb nicht intim wurde, weil er so besonders nett und sensibel und gar nicht oberflächlich sei und anders behandelt werden müßte als alle anderen. Da fühlte er sich so geehrt, daß er ein Magengeschwür bekam, und das kurz vor einer lange geplanten, großen Reise nach Spanien mit seinen Brüdern und einigen, die er für Freunde hielt.
Sie waren ein fröhlicher Haufen, und abends saßen sie am Strand des Zeltplatzes, tranken Rotwein und schlossen Bekanntschaften mit anderen jungen Leuten. Nur einer trank keinen Rotwein. Wegen seines Magens.
Doch dann geschah das Wunder: Eine süße Rothaarige pickte ihn mitten aus den männlichen, starken Kerls heraus, nahm ihn bei der Hand, ging mit ihm zu seinem Zelt, hieß ihn, seinen Schlafsack zu nehmen, und führte ihn zu einer nahe gelegenen Bucht, die zu dieser nächtlichen Stunde vollkommen einsam war. Es war eine warme, sternenklare Nacht, sie berauschten sich, verloren sich aneinander, bis sie schließlich bekümmert gestand: "Ich möcht' so gern mit Dir schlafen, aber ich hab' Pillenpause. Bist Du mir jetzt böse?“ Doch dann hellte sich ihre Miene auf, und sie flüsterte: „Weißt' was, ich mach's Dir mit dem Mund." Und der schöne, kluge junge Mann? Der war so enttäuscht, daß er nur murmelte: "Nee, danke, sehr lieb von Dir, aber das braucht's nicht."
Ich sagte ja schon, daß er sich trotz seiner sonstigen Klugheit manchmal nicht sehr helle anstellte.
Sie tauschten Adressen aus, schrieben Briefe, und er bekam sogar Besuch von ihr. Sie standen eng aneinandergepreßt im Olympiastadion und jubelten dem einlaufenden falschen Marathonsieger zu, abends tanzten sie sich atemlos in einer Disco zwischen naserümpfenden Teenagern, und nachts trieben sie es im schmalen Bett seiner Studentenbude, als ob der nächste Tag abgesagt worden wäre. Die Pillenpause war vorbei, und von blasen war nicht mehr die Rede (Aber er durfte als Andenken eine Trichomonaden-Kultur behalten, die er bei ihr gefunden hatte...). Sie lehrte ihn, daß Sangria erst richtig schmeckt, wenn sie mit einem Schuß Marie Brizard gewürzt wird, und daß Frauen keine erogenen Zonen haben. Er zeigte ihr seine Stadt, und wozu ein sexuell ausgehungerter, gesunder 23-Jähriger fähig ist.
Als sie nach drei Tagen wieder abgereist war, erwiderte er wenig später auch den Besuch – und mußte erfahren, daß eine so hell auflodernde Flamme nicht lange brennen konnte. In der Asche blieb nicht einmal genug Wärme für eine Freundschaft übrig. Er dichtete noch ein Sonett für sie, und schickte ihr als Geburtstagsgeschenk ihre vier Vornamen in japanischer Kalligraphie, weil er von ihrer Begeisterung für Japan wußte. Aber verschüttete Milch kann man nun einmal nicht wieder in die Kanne zurückgießen.
Das liegt jetzt ein halbes Menschenalter zurück. Viel zu schnell sind die Jahre vergangen. Jung ist er nicht mehr, sondern in den besten Jahren. Schön ist er auch nicht mehr, eher gut aussehend - f&uunl;r sein Alter. Man hält ihn für jünger, als er wirklich ist, denn sein ehemals kastanienbraunes Haupthaar ist mit der Zeit nur dunkler geworden, und obwohl ihn das Leben einiges gelehrt hat, war es doch meistens so freundlich, auf eine Mitschrift mit scharfem Griffel in seinem Gesicht zu verzichten. Nur sein Bart, der vor zehn Jahren noch fuchsrot auf seinen Wangen brannte, verrät die verstrichene Zeit: er hat sich vom Fuchs- zum Dachsfell gewandelt.
Die Nachfolge seines Vaters hat er ausgeschlagen und ist nicht Arzt geworden. Er besitzt zwar heilende Hände, aber er kann nur die heilen, die er liebt, und das ist für einen Arzt zu wenig. Klug ist er immer noch, wenn er auch immer noch dazu neigt, dieselben Dummheiten zu machen wie früher. Manches ändert sich eben nicht.
Dieses aber weiß er: Daß er für das, was ihm einst im Austausch für seine eigene Jugend und Schönheit gegeben worden wäre, jetzt würde bezahlen müssen. Das ist schon in Ordnung, denn für die Jugend ist es billig und voll von Freuden, das Alter aber zahlt mit Geld und Torheit. Er benutzt zwar immer noch nicht das bewußte unwiderstehliche Parfüm, aber er ist nicht mehr so arm, wie er es in seiner Jugend war, und hat keine anderen Laster, die sein Taschengeld aufzehren würden.
Ach ja: Er hat nach langer Zeit und etlichen kläglichen Fehlschlägen eine duftende, geliebte und liebende Frau gefunden, die gegen den Widerstand ihrer beider Familien in guten und schlechten Zeiten zu ihm gehalten hat, die ihm drei kluge und schöne Töchter schenkte, die ihn endlich auch lehrte, wie gut es ist, weinen zu können, und daß eine Zurückweisung manchmal auch ein Versprechen sein kann.
Der zermürbende Alltag hat das Feuer in ihnen zu einer leisen Glut dahinschwinden lassen, aber wenn sie sich - was immer seltener geschieht - in seine Arme schmiegt und seine Küsse erwidert, wird ihm immer noch schwindlig, und sein Hosenlatz wölbt sich. Geblasen hat sie ihm allerdings niemals.
Manchmal träumt er von einer Rothaarigen, die ihm das verschmähte Geschenk jener lauen Sommernacht noch einmal anbietet.
All dies kann der hinreißende Rotschopf, der ihm in dem halb abgedunkelten Zimmer eines verschwiegenen Hauses entgegentritt, nicht wissen. Er müßte es ihr sagen. Aber wie wir den dummen, klugen, alten jungen Mann kennen, wird er wohl wieder schweigen. |